„Wie Wissenschaft praktisch werden kann – Erfahrungen und Herausforderungen in der Alphabetisierung und Grundbildung“

Prof. Dr. Josef Schrader, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V. (DIE)

Prof. Dr. Josef Schrader während seines Vortrags auf der Bühne © BMBF / Heidi Scherm

Vorzeigbare Erträge und bleibende Herausforderungen

Prof. Dr. Schrader nähert sich dem Thema mit einer Bilanzierung der bisherigen Förderaktivitäten und erkennt an, dass im Rahmen der AlphaDekade bereits vieles erreicht worden sei. Als Beispiele führt er die Sensibilisierung und Mobilisierung von unterschiedlichen Akteuren in diversen Handlungsfeldern (Grundbildungszentren, Jobcenter, sozialräumliche Einrichtungen) und die intensivierte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern an. Ebenso lobt er die wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit und die Nutzerzahlen des vhs-Lernportals, die ohne die Förderung nicht erreicht worden wären. Auch seien eine Fülle von Produkten und Konzepten entwickelt worden, auch in Feldern, die über den traditionellen Grundbildungsbereich hinausgingen.

Gleichwohl gebe es wenig Fortschritte in der Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenzen in der Bevölkerung, wie der Vergleich der Zahlen von LEO 1 und LEO 2 verdeutliche. Die Herausforderungen und strukturellen Probleme dauerten an, so Prof. Dr. Schrader.

So gebe es zwar viele Fortbildungsangebote für Lehrende, wie bspw. der Masterstudiengang an der PH Weingarten oder die Qualifizierung ProGrundbildung. Ebenso führten die Projekte eine Vielzahl von Qualifizierungen durch. Nur seien diese Angebote bisher nicht evaluiert worden, und man wisse nicht, ob diese Fortbildungen zu einem Kompetenzzuwachs beitrügen. Des Weiteren habe die Pandemie dazu geführt, dass viele Angebote eingebrochen seien und Lehrkräfte eine alternative Beschäftigung angenommen hätten.

Die Zuwanderung benennt Prof. Dr. Schrader als weitere bleibende Herausforderung. Die Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zeigten, dass weniger Absolventinnen und Absolventen von Integrationskursen das B1-Niveau erreichten. Ebenso habe der IQB-Bildungstrend gezeigt, dass es gravierende Kompetenzdefizite bei den Neuntklässlern beim Lesen und Zuhören gebe. Letzteres träfe insbesondere auf Schüler und Schülerinnen zu, die zuhause kein Deutsch, sondern ihre Herkunftssprache sprächen. Es sei deshalb zu erwarten, dass die Gruppe der gering literalisierten Personen im Übergangsbereich und dann in der Erwachsenenbildung permanent nachwachse.

Forschungswissen ist nicht Transferwissen

Ein Mann steht auf einer Bühne neben einer Leinwand auf der eine Grafik abgebildet ist © BMBF / Heidi Scherm

Im Anschluss stellt Prof. Dr. Schrader Transfer-Modelle aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen vor und benennt Ursachen, warum der Forschungs-Praxis-Transfer häufig nicht gelinge. Als eine Ursache nennt er das Belohnungssystem der Wissenschaft, das in erster Linie Publikationen und Vorträge in der wissenschaftlichen Community belohne, nicht aber Transferleistungen. Des Weiteren sei das Forschungswissen – gerade auch in der sprachlichen Bildung – sehr verstreut: Die unterschiedlichen Disziplinen (Fachdidaktik, Sprachwissenschaft, Psychologie, Erziehungswissenschaft etc.) hätten jeweils ihre eigenen Publikationsorte, und das vorhandene Wissen werde selten systematisch zusammengeführt.

Ebenso beklagten Praktikerinnen und Praktiker häufig, dass die Wissenschaft die Bedingungen der Praxis nicht hinreichend zur Kenntnis nähme. Der Wissenstransfer werde als linearer und nicht als ko-konstruktiver Prozess verstanden und dialogische Formate zwischen Wissenschaft und Praxis fehlten häufig. Es gelte anzuerkennen, dass Forschungswissen nicht mit Transferwissen gleichzusetzen sei. Forschungsergebnisse müssten übersetzt werden in eine Sprache, die die Praxis verstehen könne – und die Praxis müsse ihre Erfahrungen idealerweise auch wieder an die Forschung zurückspielen. Ebenso seien Transferstrategien selten von Beginn an in die Arbeitspakete der Fördervorhaben integriert, sondern würden gegen Ende der Projektlaufzeiten ad hoc entwickelt. Zudem endeten Modellvorhaben in der Regel nach drei Jahren – und niemand fühle sich dann mehr verantwortlich, das Erlernte zu übertragen. 

Rezepte für eine wirksamere Forschungs-Praxis-Kooperation

Teilnehmende klatschen auf ihren Stühlen © BMBF / Heidi Scherm

Im letzten Teil seines Vortrags erläutert Prof. Dr. Schrader „Rezepte“ für eine wirksamere Forschungs-Praxis-Kooperation. Zuvorderst brauche es einen Dialog auf Augenhöhe zwischen Wissenschaft und Praxis, um die Probleme zu identifizieren, für deren Lösung die Wissenschaft einen Beitrag leisten könne. Darüber hinaus sollten mehr und kontinuierlich aktualisierte Forschungssynthesen für die Praxis in Auftrag gegeben werden, um den Praktikerinnen und Praktikern die Möglichkeit zu geben, das vorhandene Forschungswissen tatsächlich zu nutzen. Als eine mögliche Strategie führt Schrader hier die Begleitung von Einzelprojekten durch Metavorhaben an. Die am DIE entwickelte „Produktdatenbank Alphabetisierung und Grundbildung“ ermögliche es darüber hinaus, das vorhandene Erfahrungswissen der Praxis zu erschließen. Ebenfalls sei es erforderlich, eine enge und verbindliche Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis formal zu vereinbaren. Nicht zuletzt brauche es einen institutionalisierten Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft, wie z.B. das „DIALOG-Praxisnetzwerk für Wissenstransfer und Innovation“ des DIE oder die Dekadeveranstaltungen.

Abschließend betont Prof. Dr. Schrader, dass als grundlegende Voraussetzung für eine gelingende Forschungs-Praxis-Kooperation die Bereitschaft erforderlich sei, Verantwortung für dieses Thema zu übernehmen und die notwendige Haltung zu zeigen. In diesem Zusammenhang habe die Wissenschaft eine Bringschuld und die Praxis eine Holschuld.